Die Stibitze kommen!

 1. Die erste Begegnung

- Wo hab’ ich denn bloß wieder die Schere hingelegt? - Wo ist meine zweite Socke? - Warum kann man nie den Nagelknipser finden, wenn man ihn braucht? - Wo sind denn jetzt wieder meine Schlüssel? - Hatte ich nicht gerade eben noch meine Brille? - Mami, Nuggi, Nuggi!

 Habt ihr euch nicht auch schon gefragt, warum immer dieselben Dinge auf solch mysteriöse Weise verschwinden? Gerade eben hattet ihr sie noch gesehen, und plötzlich sind sie wie vom Erdboden verschluckt! Da geht doch irgend etwas nicht mit rechten Dingen zu!

Wahrscheinlich wird es an der Unordnung liegen, die sich auf ebenso seltsame Weise oft in verheerendem Ausmaß verbreitet. Niemand macht sie, und doch ist sie immer wieder einfach da. Gewisse Gegenstände aufzuspüren wird zu einem hoffnungslosen Unterfangen. Nur: Warum sind es immer dieselben Gegenstände, die verschwinden?

Und warum sind es bei mir die Scheren, bei meiner Nachbarin aber die Schlüssel, die fortwährend Verstecken spielen?

 Ich hätte nie geglaubt, dieses Rätsel je lösen zu können. Bis an jenem Morgen im Dezember das Unglaubliche geschah:

 

Ich stand mitten im Kinderzimmer und war wahrhaftig den Tränen nah vor lauter Verzweiflung über das Chaos, das wieder die ganze Wohnung heimgesucht hatte und mich vorwurfsvoll anzugrinsen schien. Hilflos hob ich dies und jenes vom Boden auf, wußte aber nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das nach seiner Mami ruft und nicht gehört wird. Und wäre ich noch klein gewesen, hätte ich bestimmt Hilfe bekommen in meiner Not.

Gerade als ich versuchte, den Begriff der Ordnung neu zu definieren und irgendwie auf die Sprache dieses Zimmers zu übersetzen, fiel mir eine einzelne Socke auf, die sich ganz sacht zu bewegen schien. -" Das gibt’s doch nicht", dachte ich. "Sollten wir etwa Mäuse haben?" Daß diese Erklärung schon wegen unserer beiden Katzen völlig absurd war, ist ja wohl klar. Aber was war in diese Socke gefahren? Socken bewegen sich nicht von selbst. - Oder sollte ich mich getäuscht haben? Aber nein :- Als ich noch eine Weile ruhig stehen blieb, bewegte sich die Socke wieder. Und ganz langsam und zaghaft kam ein Fellbüschel daraus hervor; dann eine klitzekleine Knollennase, die schnuppernd innehielt, und schließlich lugten zwei kleine schwarze Knopfäuglein neugierig aus der Socke hervor ins Zimmer. Mit riesigen Patschhänden befreite sich das kleine Monster aus der Socke, - oder sollte ich sagen, es stülpte sich heraus. Denn das Monster war die Socke. Plötzlich lief es auf dünnen, flinken Beinchen durchs Zimmer, schnappte sich den Radiergummi, der unter dem Schreibtisch meines Sohnes lag, und verschwand damit unter dem Bett.

"Autsch!" - Ich hatte also nicht geträumt, denn ich spürte deutlich den Schmerz im linken Unterarm, als ich mich probehalber kräftig kniff.

- Was war das bloß?

Auf dem Bauch liegend versuchte ich des kleinen Ungetüms, das dort vor meinen Augen in der Dämmerung verschwunden war, habhaft zu werden. Vergeblich. Außer einigen verstreut liegenden Farbstiften, Bauklötzen, Taschentüchern und Kleidungsstücken war da nichts mehr zu sehen.

"Ja, das kommt davon!" sagte ich zu mir selbst. Jedes Jahr nahm ich mir aufs neue vor: Weniger Streß in der Vorweihnachtszeit! Aber in einer Familie mit Kindern ist das gar nicht so einfach. Schon gar nicht während der kalten Jahreszeit. Kaum hat das letzte der Kinder seine Erkältung auskuriert, beginnt das erste schon wieder zu niesen. "Ja, es könnte auch eine neue Art Grippe sein; bestimmt werde ich krank." dachte ich. Also raffte ich mich auf und begann gedankenverloren die am Boden liegenden Spielsachen einzusammeln. Die Handpuppen in das dafür bestimmte Holzkästchen. - Seltsam, der Deckel ließ sich doch sonst immer mühelos schließen? Mit leichtem Druck versuchte ich es noch einmal. - "He! Was soll das? Du drückst mir ja meine Nase platt!" Mit Schwung hatte sich der Deckel geöffnet. Der kleine haarige Wicht sprang behende aus dem Kästchen und sah mich mit zornig funkelnden schwarzen, runden Aeuglein an. Mit den drei langen, dünnen Fingern der rechten Hand betastete er seine kugelrunde Nase. "Das tut ganz schön weh, das kannst du mir glauben!"

Fassungslos starrte ich auf das seltsame Wesen. " Ja... aber... wer bist du denn? Und was tust du hier ?" brachte ich endlich stockend hervor. "Ich bin ein Stibitz. Und ich wohne hier!" "Wo hier?" fragte ich verständnislos. "Na, hier!" Mit den Armen beschrieb er einen Halbkreis. Wie ein König , der einem Fremden sein Reich präsentiert. Ein winzig kleiner, alles beherrschender Diktator.

"Wir Stibitze leben schon seit langer Zeit im Chaos der Kinderzimmer." erklärte er mit überzeugter Stimme. Dann wurde er etwas nachdenklicher: "Aber seltsam, daß du mich sehen kannst... Eigentlich können uns nur die Kinder manchmal sehen; und auch nur, wenn es besonders phantasievolle Kinder sind. - Vielleicht... in Momenten, wenn Erwachsene zu Kindern werden? - Ja, ich glaube, das soll schon vorgekommen sein. Aber jetzt bin ich müde. Es strengt mächtig an, mit einem Menschen zu reden, weißt du. Und außerdem ist es Zeit für mein Tagesschläfchen." Bei diesen Worten war der Stibitz langsam in sich zusammengesunken und hatte sich vor meinen Augen in eine Socke verwandelt. Eine Socke, die mir irgendwie bekannt vorkam. Gebannt sah ich noch lange regungslos auf die rote gestrickte Socke, bis auch diese nicht mehr sichtbar war.

Das, liebe Leser, war meine erste Begegnung mit einem Stibitz.

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